Der Aargauische Gewerbeverband AGV hat seine Mitglieder mit viel Professionalität, Durchsetzungsvermögen und Fingerspitzengefühl durch die Krise navigiert – trotz Wechsel an der Spitze: Unternehmer und Nationalrat Benjamin Giezendanner hat vor rund sieben Monaten das AGV-Präsidium von Kurt Schmid übernommen. Hier spricht er über den branchenübergreifenden Fachkräftemangel, die voranzutreibende Digitalisierung und die Förderung der Berufslehre. Er wünscht sich eine schnelle Lockerung der verbleibenden Restriktionen und schaut dem nächsten Halbjahr optimistisch entgegen.
Sie sind seit dem Oktober 2020, also rund sieben Monate, im Amt als neuer Präsident des Aargauischen Gewerbeverbandes AGV. Welche Bilanz können Sie ziehen?
Benjamin Giezendanner: Die Amtsübernahme zu Beginn der zweiten Welle war eine grosse Herausforderung. Insbesondere der Alleingang der Regierung hinsichtlich des Lockdowns im Dezember verlangten eine starke Präsenz sowie auch politische Schlagfertigkeit. Nach den ersten sechs Monaten freue ich mich auf eine Normalisierung der Verbandstätigkeit.
Ihr Vorgänger Kurt Schmid hat in seinen 12 Jahren als Präsident den Verband zu neuer Stärke geführt, zu einer politischen Macht geformt. Welche Prioritäten setzen Sie?
Der Verband wird auch weiterhin politisch an vorderster Front für die Anliegen der Gewerbetreibenden kämpfen. Gleichzeitig gilt es gegen innen die verbandsinterne Digitalisierung voranzutreiben und unser «Tafelsilber», die Berufslehre, zusammen mit den Ausbildungsbetrieben, Verbänden, Schulen und dem Kanton weiterzuentwickeln, damit wir junge Berufsleute von morgen produzieren, welche in der Wirtschaft gerade in dieser Zeit dringend benötigt werden.
Die letzten Monate waren Corona-bedingt turbulent. Der Grosse Rat hat kürzlich auf Antrag des Regierungsrats den Kredit um 325 Millionen auf 450 Millionen Franken aufgestockt. 60 Millionen Franken wurden bislang ausbezahlt. Hat dieser finanzielle Rettungsring bis jetzt Schlimmeres verhindern können?
Die finanziellen Entschädigungsmassnahmen seitens Politik waren dringendst angebracht, primär hinsichtlich der verfügten Schliessungen. Obwohl der Kanton Aargau im Vergleich zu den Nachbarkantonen ein schnelles Programm hinsichtlich der Umsetzung der Härtefallmassnahmen verabschiedet hat, darf man nicht vergessen, dass die betroffenen Betriebe nur teilweise entschädigt wurden und einen wesentlichen Schaden bei den Eigentümern verbleibt. Dank diesen Massnahmen sowie der Kurzarbeit konnten wir grössere Entlassungswellen bis jetzt verhindern. Doch die Langzeitfolgen werden wir erst in einigen Monaten beurteilen können.
Wie stark hat Corona die Aargauer Wirtschaft ausser Kurs gebracht?
Während Corona habe ich stets festgehalten, dass der Zustand eine Gefahr aber auch eine Chance biete. Diese Chance haben viele Unternehmen gepackt und sich automatisch aufgrund der Notwendigkeit zusätzlich digitalisiert. Diese Entwicklung hält hoffentlich an und unterstützt uns, damit wir produktiver und wettbewerbsfähiger werden.
Wie unterstützt der AGV die Aargauer Unternehmen?
Während den vergangenen Monaten konnte man die wahre Mission des AGV gut erkennen. Erst in der Krise zeigt sich der Nutzen eines solchen Verbandes. Insbesondere die politische Dimension mit der primären Forderung der schnellen Öffnung und sekundär der Kampf für eine schnelle und adäquate Entschädigung waren eminent wichtig. Zukünftig wird sich die Unterstützung wieder vermehrt auf Dienstleistungen zu Gunsten unserer Mitglieder richten, respektive der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Berufslehre.
Was sind zurzeit die grössten Herausforderungen für die Aargauer KMU?
Die Herausforderungen des Gewerbes sind sehr heterogen und weichen je nach Branche ab. Im Bereich der Gastronomie gilt es nach der Öffnung schnellstmöglich wieder die Kundschaft vom Genuss aus fremder Küche zu überzeugen. Im industriellen Bereich ist momentan eine massive Knappheit der globalen Lieferkette zu verzeichnen und der Kampf um genügend Ressourcen hält an. Zusätzlich zeigt sich branchenübergreifend der Fachkräftemangel, was wir vor einigen Monaten nicht gedacht hätten.
Der Aargau ist Spitzenkanton, wenn es um den Export geht. Fast ein Drittel aller Beschäftigten sind in der Exportbranche tätig. Sind hier die Aargauer Unternehmen – trotz erschwerten Bedingungen durch die Pandemie – gut unterwegs?
Die Exportlastigkeit des Aargaus ist einer der grossen Vorteile unseres Kantons. Dieses Faktum hält unsere Wirtschaft agil, da wir mit schwierigen Bedingungen wie höheren Löhnen und teurerem Boden wettbewerbsfähig bleiben müssen. Dies gelingt nur, wenn wir innovativer sind und bessere Rahmenbedingungen haben. Es scheint, dass wir dies besser als unsere direkten Nachbarn im Bundesland Baden-Württemberg gemeistert haben, auch dank weniger staatlichen Einschränkungen.
Der Schweizerische Gewerbeverband fordert sofort starke Lockerungen. Wie sehen Sie das?
Der Aargauische Gewerbeverband steht hinter dieser Forderung. Die epidemiologische Lage zeigt klar, dass die voranschreitende Impfkampagne sowie die Disziplin der Bevölkerung betreffend Selbstschutz eine Rückkehr zur Normalität schnellstmöglich erlaubt. Die Aufrechterhaltung diverser Massnahmen wären unverhältnismässig und würden höheren Schaden anrichten, als sie verhindern könnten.
Die Berufsbildung gehört zum Erfolgsmodel der Schweizer KMU-Wirtschaft und erweist sich laut Bundesrat Guy Parmelin als krisenresistent. Wie sieht es im Aargau aus?
Die Berufsbildung ist grundsätzlich auch im Aargau krisenresistent. Durch das Home-Schooling während des Lockdowns werden Defizite in der Berufsbildung erwartet. Ich bin dennoch optimistisch, dass diese in den nächsten Monaten durch Präsenzunterricht und das Engagement der Lernenden wieder wettgemacht werden können.
Es ist zentral, dass die Betriebe trotz Corona-Krise weiterhin Schulabgänger einen Ausbildungsplatz geben und auch Schnupperlehren durchgeführt werden. Wie unterstützen Sie da die Aargauer KMU?
Während den vergangenen Monaten wurden spürbar weniger Schnupperlehren durchgeführt, was aus organisatorischen Gründen nicht möglich war. Jedoch stehen die Zeichen gut, dass die Zahl der Ausbildungsplätze konstant bleibt.
Was sind – mal abgesehen von Corona – Herausforderungen für die Aargauer Firmen?
Aargauische Unternehmen stehen vor der Herausforderung, die voranschreitende Digitalisierung möglichst schnell umzusetzen und teilweise die eigene Strategie anzupassen. Zusätzlich müssen wir die Kundschaft vom lokalen Einkauf überzeugen, was aufgrund der Grenznähe eine Herausforderung darstellt.
Was wünschen Sie sich persönlich für die nächste Zeit als Präsident AGV?
Kurzfristig wünsche ich mir eine schnelle Lockerung der verbleibenden Restriktionen, damit der Konsum weiter ansteigt und die eingeschränkten Gewerbebetriebe einen der umsatzstärksten Sommer der letzten Jahre erleben werden. Dies halte ich auch für möglich, da ich davon ausgehe, dass ein namhafter Teil der Bevölkerung seine Ferien im Inland verbringen wird. Zusätzlich wünsche ich mir die uneingeschränkte Durchführung der AB’21 (Aargauische Berufsmesse) in Wettingen, damit tausende von Schüler und Schülerinnen von der Berufslehre überzeugt werden können.
Interview: Corinne Remund